Der Mensch als Wichs­vorlage: Cinema Paradiso

Der geglückte Film











Cinema Paradiso macht es einem nicht leicht. Der Plot des Films ist teils kitschig, seine Figuren sind hoffnungslos überzeichnet und die Bilder nahezu unerträglich nostalgisch. Hinzu kommt ein Morricone-Sound, der so elegisch geraten ist, dass es bis heute einen Wettbewerb unter Geigern zu geben scheint, der Jahr für Jahr dazu auffordert, eine noch schwülstigere Interpretation hinzulegen. Tatsächlich dürfen wir der zuckrig klebrigen Bonbon-Oberfläche von Cinema Paradiso nicht einen Finger breit über den Weg trauen, zumindest wenn wir dem eigentlichem Film auf die Schliche kommen wollen. Der befasst sich nämlich auf wunderbare Art mit dem Kino als Komplize und Metapher des seelischen Apparats und seinen unmöglichen Bildverstrickungen.

Die Eckpfeiler der Geschichte sind schnell skizziert: In ihrem Zentrum steht der erfolgreiche Regisseur Salvatore di Vita, der sich nach 30 jähriger Abwesenheit auf den Weg in die Heimat macht, um seinen alten Mentor Alfredo zu beerdigen. In Rückblenden zeichnet Cinema Paradiso nun das Heranreifen Salvatores in dem fiktiven sizilianischen Giancaldo nach, einem ärmlichen Dorf, in dem die Leute kaum etwas zu beißen haben, sich aber um so prächtiger im Cinema Paradiso amüsieren. Mitten drin der Halbwaise Salvatore, der jede freie Minute im Vorführsaal bzw. in der Projektionskabine verbringt, in der er schnell unter die Fittiche des Filmvorführers Alfredo gerät, der die Rolle eines Ersatzvaters übernimmt. Als der Dreikäsehoch eines Tages mit herausgeschnittenem Filmmaterial in Berührung kommt, Kussszenen, die der örtliche Priester lieber verbannt sieht, als sie dem Publikum zuzumuten, gerät er endgültig in den Sog einer unendlichen Faszination: Salvatore kann ein Leben lang nicht mehr von den Bildern des Kinos lassen. Erst tritt er in die Schuhstapfen Alfredos, am Ende wird er Regisseur. Ein entscheidender Teil des Dramas, entspinnt sich dazwischen, nämlich als Romanze mit der bürgerlichen Bankierstochter Elena, um die er zunächst verzweifelt buhlt, die dann nach viel Romeo-und-Julia-Hü-und-Hott doch noch seine Leidenschaft erwidert. Es bleibt ein kurzes Glück, denn die missbilligenden Eltern bringen die Tochter unauffindbar in eine andere Stadt und Salvatore bleibt mit gebrochenem Herzen zurück. Unter dem Garn dieser romantischen Verwicklungen verbirgt sich ein zweiter Film. Und der erzählt ganz wunderbar von der Natur menschlichen Begehrens.

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Salvatore


Im Geil-Reich der Bilder.

Schauen wir uns dazu exemplarisch die erste Begegnung zwischen Salvatore und Elena an. Wie so oft, beginnt auch diese Romanze mit einem zufälligen Blick: Salvatore, inzwischen ein junger, gut aussehender Kerl, erwischt bei einem Ausflug mit der Kamera die gleichermaßen junge, gut aussehende Elena. Tatsächlich kann er weder Augen noch Objektiv von ihr lassen, was unschuldigeren Zeiten wohl gerade noch in Ordnung war, heutzutage wohl ein Grund wäre, die Polizei dazu zu bitten. Die Bankierstochter verliert jedenfalls ein Taschentuch, was Salvatore und einen Nebenbuhler dazu veranlassen, wie von der Tarantel gestochen loszujagen, um sich als zuvorkommenden Kavalier einzuführen. Soweit so unschuldig. Doch was geschieht hier eigentlich zwischen Salvatore, Elena und der Kamera? Nun, das ist mit Freuds Begriff von der Libido leicht zu verstehen, der uns hier fast im wörtlichen Sinne nachbuchstabiert wird: Libido beschreibt nämlich eben die Köderbarkeit der Sexualität durch Bilder, Typen, Gestalten. Libidobesetzung heißt: Ein Objekt vermischt sich mit einem Bild und wird dadurch erst begehrenswert. Modern würde man sagen: Du bist genau mein Typ! Dass es dabei um keinen realen Anderen gehen kann, sondern tatsächlich nur um ein Bild, veranschaulicht Tornatore mit der Kamera, Salvatores magisch-phallische Prothese, mit deren Hilfe er Elena in einen Raum erotischer Imagination, in sein persönliches Geil-Reich bannt.

Cinema Paradiso Salvatore

Cinema Paradiso Elena

Für den narzisstischen Rahmen sexueller Attraktion findet der Regisseur immer wieder neue Bilder. Nachdem Alfredo dem um den Verstand gebrachten Salvatore die Geschichte von einem Ritter erzählt, der das Herz einer schönen Frau gewinnen will, indem er 100 Tage und Nächte unter ihrem Balkon wartet, schiebt der junge Mann fortan selbst jeden Abend unter Elenas Fenster Wache, im Grunde eine abstruse Prüfung, von der er sich aber erhofft, dass am Ende seine Leidenschaft erwidert wird. Hinter der großromantischen Tat verbirgt sich natürlich die recht alte Verhaltensschablone der höfischen Liebe, von der man ja allgemein annimmt, dass sie darauf zielt, das Objekt roher sinnlicher Begierde in eins des erhabenen geistigen Verlangens zu verwandeln. Lacan schlägt eine andere, weniger naive Lesart vor: Darin fungiert die angebetete Frau als eine Art inhumaner Partner, als leere, glatte Oberfläche, der den Raum für mögliche Projektionen eröffnet, zu dem aber keine echte Beziehung möglich ist. Die höfische Liebe – und das hat sie mit dem romantischen Begehren gemein, meint eben kein wirkliches Gegenüber: Tatsächlich könnte Elena blöde sein, aufs Unangenehmste stinken oder sonst irgendwelche Fehler besitzen, die Menschen aus Fleisch und Blut eben haben. In Wahrheit ist es gleich: Das Verlangen gilt eben nicht dem Anderen als solchen. Sein Selbst könnte bloß störend dazwischen funken. Stattdessen organisiert es sich um eine Leerstelle herum. Tornatore fasst dieses Verhältnis ganz wunderbar mit dem Bild des Fensters, unter dem Salvatore jede Nacht wartet: Elena erscheint hier immer wieder als dunkler Schatten zwischen den Öffnungen der Jalousien und liefert so ein Minimium an Materialität, das die Fantasie des unsterblich Verknallten entzündet.

Cinema Paradiso Wichser

Cinema Paradiso Salvator küsst Elena

Dabei konstruiert Tornatore eine Wesensverwandtschaft zwischen Elenas Fenster und der Kinoleinwand: handelt es sich doch in beiden Fällen um eine perfide Form von ›Wand‹, die den irdisch Sehnenden und das überirdische Sehnsuchtsobjekt gleichermaßen verbindet und unerreichbar trennt. Auf dieses Verhältnis weist er uns an verschiedenen Stellen des Films hin. So gibt es etwa eine Szene, die oft übersehen wird: sei es, weil sie so beiläufig erscheint oder eben weil man glaubt, sie sei nur Teil des Films, um einen Lacher zu provozieren. Sie zeigt eine Horde pubertierender Jungs, die eine Reihe des Kinos besetzt, um Vadims ›… und ewig lockt das Weib‹ zu sehen. Und ›sehen‹ meint hier konkret: sich im Angesicht der nackten Brigitte Bardot einen runterzuholen. Später im Film erkennen wir das gleiche Sujet in der romantisch verbrämten Fassung: Der vor Sehnsucht halb umkommende Salvatore wirft die Bilder seiner ersten Begegnung mit Elena an die Zimmerwand, um ihr Bild zu küssen. Natürlich rührt die Unschuld der Szene an. Das gelingt vor allem, weil sie die eigentliche Position Salvatores maskiert: die eines Wichsers. Zugegeben, die Zuspitzung erscheint vulgär, jedoch beschreibt sie den Sachverhalt insofern treffend, als das der junge Mann das Reich imaginärer Faszination an keinem Punkt der Geschichte verlassen wird. Tornatore macht das ganz deutlich, als sich Salvatore und Elena zum ersten Mal tatsächlich küssen. Die zwei werfen sich in der Vorführkabine des Kinos in die Arme, dabei drückt Salvatore sie gegen einen Wust aus herausgeschnittenem Filmmaterial. Man muss hier schon beide Augen zudrücken, um die symbolische Implikation zu übersehen. Tatsächlich hat das Englische ein schönes Wort für den Beruf des Filmvorführers: ›Projectionist‹.

Sand im Projektionsgetriebe.

Wir kennen romantisch verblendete Figuren zu Hauf aus der Literatur: In Hoffmanns ›Sandmann‹ verschießt sich der Halbwaise Nathaniel in einen seelenlosen Automaten, um am Ende den Wahnsinn zu verfallen. In Flauberts ›Die Erziehung des Herzens‹ ist es der junge Frederic, der sich unsterblich in eine verheiratete Frau verliebt, eine Liebe, die ein Leben lang unerwidert bleibt und am Ende in ein total verpfuschtes Leben mündet. Es ist das tragische Personal einer falschen Liebe, das wie Narziss ewig im Labyrinth libidinöser Selbstspiegelung umherirrt und dessen Geschichten in aller Regel böse enden. »The square! Go away. The square’s mine! The square’s mine!«, ein paar Mal lässt Tornatore einen Verrückten über den Piazza des Dorfes flitzen, der den Platz lautstark für sich reklamiert und alle Anwesenden verscheucht. Ein simpler ›Running Gag‹, möchte meinen, wobei sich eine andere Interpretation anbietet. Und zwar gibt es eine alte Idee, die besagt, dass der Wahnsinnige nich wirklich wahnsinnig ist, sondern eine dem Normalen oder Gesunden verborgene Wahrheit ausspricht. Tatsächlich erhält die ulkige Szene nur ihren Sinn, wenn wir den Verrückten als eine Art Wiedergänger Salvatores deuten, der uns in seiner karikaturhaften Deformation, die ungeschminkte Wahrheit über eben diesen Salvatore erzählt: Sein ›Square‹ – das sollte an dieser Stelle klarsein, ist die Leinwand, der Raum der Imagination, in dem zwar Platz für Hirngespinste, sprich: irreale Traumfrauen ist, aber eben keiner für Menschen aus Fleisch und Blut. Denn das erzählt der Film an anderer Stelle: In dem Maße wie er Elena, das ewig geile Phantom seiner Einbildungskräfte, zur alles überstrahlenden Madonna erhebt, wertet er Beziehungen zu realen Frauen ab: Sie haben so schnell aus seinem Leben zu verschwinden wie sie dort erschienen sind. Es hat also durchaus seine Berechtigung, wenn wir fragen: Ist er nicht der eigentlich Verrückte?

Cinema Paradiso Odysseus

Cinema Paradiso Ruine

Um so erstaunlicher ist es, dass Tornatore seinem Salvatore am Ende die Hand zur Rettung reicht. Nicht, indem er ihn doch noch die ›Liebe seines Lebens‹ in die Arme wirft, – was ein billiger, abgrundtief falscher Triumph gewesen wäre, nein, am Ende des Films macht er ihm ein anderes Geschenk, das größte Geschenk, das er ihm vielleicht überhaupt machen kann: die Enttäuschung. Nach dreißig Jahren lässt er ihn noch einmal auf Elena treffen. Ihre einst so strahlende Schönheit ist natürlicherweise verblasst: Sie ist alt geworden, wie sie selbst von sich sagt, hat geheiratet und zwei Kinder groß gezogen. Auf die Frage, ob sie glücklich sei, antwortet sie: »All things considered, yes. Even if it wasn’t what I dreamt of then …«. Jeder kann den Rest zu Ende buchstabieren. Denn natürlich ist mit der Ehe eine Liebe gemeint, die sich keine Illusionen darüber macht, wer der Andere ist, die entgegen Salvatores romantischen Begehren, eben keine Idealisierung ihres Objekts braucht: Sie muss nicht die nicht ins Bild passenden Eigenschaften des anderen ignorieren – seine vulgären Eigenschaften, seine Spießigkeit, sein Schmatzen beim Essen, sie liebt, im geglückten Fall, nichtsdestotrotz.

Cinema Paradiso letzte Szene

Cinema Paradiso letzte Szene

Nun ist die Begegnung mit Elena erst der Beginn einer Lektion, die Salvatore erst in der letzten, berühmt gewordenen Szene vollständig lernen soll: als tragische Wiedererkennung des eigenen Begehrens, das von Anfang an und unentrinnbar an den Bildern gefesselt war. Sie wird ihm in Form einer Filmrolle verabreicht, die ihm sein Ziehvater Alfredo vermacht hat und die sich bei einer Privatvorführung im Kino als das vom Priester zensierte und in Folge herausgeschnittene Material herausstellen soll: Kussszenen, die so montiert sind, dass sie sich nun zu einer schier unendlich langen Kette Momente reinen Glücks aufreihen. Ihre Vorführung gerät zu einer Art medizinischen Operation, zu einem karthatischen Moment der Wahrheit, indem sich nicht – wie man es vielleicht als therapeutische Notwendigkeit annehmen könnte, irgendein Schleier der Phantasie lüftet, um darunter etwa ein kaltes, monströses Objekt hervortreten zu lassen, nein, in der unerschöpflichen Anzahl der Bilder erotischen Reigens offenbart sich etwas anderes: eben der Schleier selbst als magischer Urgrund Salvatores Verlangens. Und so ist die letzte Szene Cinema Paradisos buchstäblich eine Abschiedsszene oder ein Begräbnis: nicht irgendeines Alfredos, wie uns der Film am Anfang hat glauben lassen, sondern der Tagträumer-Doublette Salvatores, die sich irgendwo in den Fata Morganen des Begehrens verirrt hatte. Dieser Abschied gelänge leicht, wäre er nicht auch mit Trauer verbunden: Trauer über den Verlust der Bilder, die uns das Glück der Welt zeigen, die wir letztendlich aber nicht leben können. Trost mag jedoch der Umstand spenden, dass die Vertreibung aus dem Paradies auch immer mit einem Erkenntnisgewinn einhergeht: Das romantische Begehren, so will uns der Film lehren, kennt zwar keine Realität jenseits der Bilder, aber die kennt eben doch die Liebe.

Sie haben Freunde oder Freundinnen, die dazu neigen, irrealen Vorstellungen von der Idealliebe hinterher zu rennen? Gönnen Sie sich das kleine billige Vergnügen, es besser zu wissen: Teilen Sie ›Der Mensch als Wichsvorlage: Cinema Paradiso‹.

















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