Wir Wasch­lappen!

– von der Ver­kümmerung des mensch­lichen Willens.

Der Essay der Stunde






























Vor der ›Willens-Erschlaffung‹ hat schon Friedrich Nietzsche gewarnt. Er fürchtete noch, dass
dort, wo das ›ich will‹ schwindet, äußere Kräfte, also das autoritäre ›du sollst‹ seinen Platz einnimmt. Heute, im libertären dritten Jahrtausend, sind diese Autoritäten immer weiter zurückgedrängt worden und die Rahmenbedingungen für die freie Entfaltung scheinen so gut wie selten. Jedoch wächst der Wille offenbar nicht mit seinen Möglichkeiten: Die Angehörigen der ›Generation Maybe‹, der ›Generation ohne Utopie‹ wirken wie unterwegs auf einer permanenten Odyssee der Sinnsuche. Den entstandenen Leerraum füllen Marketing- und Kommunikationsexperten von Unternehmen und Politik, die den strengen Befehl durch sanfte Verführung ersetzt haben.

Wo ein Wille ist, ist auch ein Ziel.

Doch lassen Sie uns den Willen zunächst genauer unter die Lupe nehmen. So ist er etwa von den reinen Impulsen zu unterscheiden: Atmung und Herzschlag sind keine Äußerungen des Willens, da sie automatisch geschehen, als selbständiger Impuls. Der Wille dagegen ist eine Bewegung, die motiviert sein, also bewusst auf ein Ziel hin gelenkt werden will. Wirklich sichtbar wird der Wille deshalb auch nur in dem, wonach er strebt. Dieses Ziel hat natürlicherweise den Charakter eines Problems – es muss der Arbeit des Willens, dem Wirken jenes Stroms, zumindest so lange Widerstand leisten, dass er sich als Gischt, als Brausen sichtbar dagegen wirft.

Dabei ist der Wille eine fließende Bewegung, eine reine Stärke, deren Quelle der Körper selbst ist, im Grunde ist er mit einem Muskel verwandt, wird er doch durch regelmäßigen Gebrauch geübt und ausgebildet. Seine stärksten Äußerungen, seine Ikonik, finden wir insbesondere im sportlichen Wettkampf: zum Beispiel als gefletschten Zähne und geballte Fäuste. Und nach dem erzielten Tor, dem gewonnenen Kampf. Im Augenblick des größten Triumphs, sprudelt der Wille, ziellos geworden, aus dem Körper hinaus und hat als Angriffspunkt nur noch sich selbst: im Schlag auf die Brust, im Urschrei, im Trommeln auf das Spielfeld. Das Kreatürliche dieser Kraft erkennen wir darin, dass sich Menschen, Menschenaffen und andere höhere Tiere in ihr so auffällig ähneln – eine Ähnlichkeit, die sich auch in ihren körperlichen Ursachen wiederfindet: Sie reicht bis in die Biochemie, zu den Hormonen und Botenstoffen, die der Mensch mit anderen Säugetieren weitgehend gemeinsam hat.

I can’t get no satisfaction.

Im übrigen teilt der Mensch auch Sicherheits- und Sozialbedürfnisse mit einer großen Zahl seiner evolutionären Geschwister unter den höheren Säugetieren. So hielt schon das archaische Streben nach Sicherheit in der Gemeinschaft den Stamm des Steinzeitmenschen auf ganz ähnliche Weise zusammen wie das Wolfsrudel und den Delphinschwarm. Erst wenn diese grundlegenden Bedürfnisse gestillt sind, folgen Individuation und Selbstverwirklichung. Sie beziehen sich nicht mehr auf Körper und Biologie des Homo Sapiens, sondern auf die Welt des Kulturwesens Mensch.

Der amerikanische Psychologe Abraham Maslow beschrieb diesen Sachverhalt in seiner berühmt gewordenen Pyramide, in der er mit fünf Ebenen Bedürfnisse und Motivationen hierarchisiert: physiologische Bedürfnisse auf der untersten Stufe und das Streben nach Selbstverwirklichung auf der obersten. Dabei ist gerade die Form der Pyramide missverständlich: Ihre Zuspitzung vermittelt den falschen Eindruck eines Zusammenlaufens, einer Fokussierung nach oben. Doch nicht an ihrer Spitze, sondern an ihrem Grund gleichen die menschlichen Bedürfnisse einander – nämlich als die kreatürlichen Bedürfnisse, denen sich unser Wille notwendig zuerst zuwendet. Am Ende steht mit der Selbstverwirklichung eben nicht der höchstmögliche, allen gemeinsame Verdichtungspunkt, sondern ein Plateau maximaler Zerstreuung; die pluralistische, individualisierte, atomisierte Gesellschaft, die Soziologen, Psychologen oder Politologen seit mehreren Jahrzehnten beschreiben, zumindest in der westlichen, sogenannten ›ersten Welt‹.

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Maslow interpretiert die ersten vier Ebenen als Defizitbedürfnisse. Sie wirken nur so lange motivierend, bis sie befriedigt sind: der Hunger beispielsweise bis zur Sättigung. Die Selbstverwirklichung dagegen ist ein Wachstumsbedürfnis, das nie vollständig befriedigt werden kann und eine ständige Motivationsquelle bleibt. Die Verdichtung und Vermittlung der an der Pyramidenspitze angesiedelten Bedürfnisse war schon immer ein gesellschaftlicher Prozess, der seit der europäischen Moderne ohne den Halt religiöser oder weltlicher Autoritäten auskommen muss. Der Mensch ist, um es mit Jean-Paul Sartre zu sagen, »zur Freiheit verurteilt.«

Von der Geburt des Willens aus dem Schoße des Mangels.

Doch wie entsteht das, was dem Willen letztlich sein Ziel, seine Bedeutung gibt? Die großen Psychoanalytiker haben den Mangel an den Anfang von Bedürfnis und Begehren gestellt (nämlich beim Kind), etwa Jacques Lacan oder Sigmund Freud, der von der »Not des Lebens« sprach. So entsteht Hunger, so entsteht aber auch gleichermaßen die persönliche Vorstellung einer besseren Welt. Während nun das Kind die Beseitigung dieses Mangels von außen erwartet, begreift das selbstbewusste, erwachsene Individuum es genau als seine politische Aufgabe, den Mangel in diesem Außen zu beheben, seine Welt also selbst tätig zu prägen: als Handelnder. Ein Begriff, der für Hannah Arendt im Zentrum ihrer politischen Theorie stand. Denn das Handeln schafft und benötigt den öffentlichen Raum, in dem unterschiedliche Menschen frei miteinander interagieren und so einen politischen Willen bilden. Dabei wird artikuliert, diskutiert, evaluiert und gestritten – so entwickelt sich Gesellschaft und so entwickelt sich aber auch rückwirkend das eigene, individuelle Selbst. In diesem Aushandlungsprozess entstehen im übrigen viel mehr als bloß Ämter, Wahlergebnisse und Parteien, nämlich Geschichten, Traditionen, Umgangsformen – das unsichtbare Netz der Kultur, das Menschen verbindet.

Arendt geht sogar noch weiter. So formuliert sie in ›Vom Leben des Geistes‹: »… denn der Wille hat nichts mit Objekten zu tun, sondern mit Projekten«. Wenn wir Tradition als das Weitergeben des Feuers und nicht als das Anbeten der Asche verstehen, dann haben wir es im Grunde mit genau demselben Gedanken zu tun: Willentliches Handeln ist in die Zukunft gerichtet, prozesshaft und gesellschaftlich-kooperativ. Und damit das politische Handeln schlechthin. So zumindest das Ideal.

Ich kaufe, also bin ich.

Tatsächlich benötigt diese Form der Willensbildung eines öffentlichen, politischen Raumes als Heimstatt, einen Ort für Prozesse, die beurteilen, bewerten und Bedeutungen schaffen, einen Geburtsort des politischen Handelns. Doch in unserer Welt der gestillten Grundbedürfnisse finden Willensbildungsprozesse der Öffentlichkeit gerade nicht im Rahmen einer politischen Bürgerschaft statt, sondern ist seit Jahrzehnten die Königsdisziplin von Unternehmenskommunikation und Marketing. Über immer ausgefeiltere Marktforschungs-, Targeting- und Werbetechniken werden im Kapitalismus vermarktbare Mängel identifiziert, Milieus skizziert, Trends analysiert, um sie anschließend in Form käuflicher Produkte und Dienstleistungen zu beheben. Zukunftsforscher und Umfrageinstitute sind zu wichtigen Partnern der Unternehmenskommunikation geworden. Darum sollen Marken heute für Lebensgefühle stehen und werden Produkte mit Werten wie Individualität, Nonkonformismus, Abenteuerlust aufgeladen.

Wer kennt sie nicht: die Zigarettenmarke, die uns auf einem Pferd den Wilden Westen entdecken lässt, die Autoreklame, die vorgibt, dass wir auf der leeren Straße dem Horizont der Freiheit entgegen jagen, das Deodorant, das uns in der Art eines magischen Elixiers unwiderstehlich macht. Die Liste ließe sich nahezu endlos fortsetzen. Eines der beliebtesten Werkzeuge für die Marketingexperten, die diese Kampagnen ersinnen, ist übrigens der sogenannte ›Goldene Kreis‹ des britisch-amerikanischen Autoren und Unternehmensberaters Simon Sinek. Sein Kerngedanke: Im Zentrum des Erfolges einer Marke steht eben nicht das Produkt einer Marke, sondern ihr ›Purpose‹, ihre Motivation. »Menschen kaufen nicht, was du machst; sie kaufen das ›Warum du es machst.‹«. »Start with Why«, »Beginne mit dem ›Warum‹«, heißt es deshalb bei Sinek, wenn es darum geht, eine grundlegende Verkaufsstrategie zu entwickeln, die man immer wieder in die Geschichten der Werbung gießen kann.

Apropos. Tatsächlich bekommt Hollywood zunehmend mediale Konkurrenz durch die globalen Marken, die das Erzählen von Geschichten inzwischen mit ähnlichen Etats und dramaturgischem Feingefühl betreiben. Die Fabriken von gestern haben sich auf den Weg gemacht, die Traumfabriken von morgen zu werden. Ihre Erzählungen sind Hilfskonstruktionen, Prothesen mit deren Hilfe sich das moderne Ich als Individuum erlebt. Ein großer Trugschluss: Zwar trägt eine Unzahl heute kaufbarer Produkte das Attribut der Individualität, doch die eigentlichen Aushandlungs-Prozesse der Individuation, nämlich Diskussion und Erkenntnisstreben, Für- und Widerrede, Spekulation und Gegenspekulation, Frage und Antwort, Kritik und Selbstkritik, verschwinden immer mehr aus dem öffentlichen Raum – sie sind eben auch nicht kapitalisierbar. Wir haben es hier mit Entwicklungen zu tun, die eben zu jener entpolitisierten Politik führt, für die die letzte Präsidentschaftswahl in den USA das aktuell wohl plakativste Beispiel ist.

Von der Vollkaskoversorgung mit Wünschen und ihrer Befriedigung.

Die Willensbildung verkümmert im Kapitalismus zur bloßen Bedürfnisbefriedigung und das ist gleich mehrfach verhängnisvoll: Auf der einen Seite führt das stete Erwecken und Erfüllen materieller Wünsche zu fatalen ökologischen Konsequenzen. Auf der anderen Seite sieht sich alles Kämpferische, Zähe, Persistente, das seit jeher zum Erreichen von größeren Zielen nötig war, glatt gebügelt, gedämpft, mit dem Narkotikum des Konsumismus betäubt: Die Beziehung zur Welt gerät so zur reinen Kundenbeziehung.

Dazu wollen Entwicklungen passen, die schon in der Kinderstube beginnen. Erst kürzlich bildete etwa die Neue Zürcher Zeitung eine schlüssige Begriffsreihe zur Wandlung der Elternrolle. Nach den ›Helikopter-Eltern‹, die das Kind nie aus den Augen ließen, und den ›Bulldozer-Eltern‹, die alle Probleme aus dem Weg räumten, damit das Kind auch ja nie lerne, wie man es selbst täte, kämen nun die Concierge-Eltern, die glaubten, den Kindern jeden Wunsch von den Augen ablesen zu müssen. Andere Zeitdiagnosen haben die heutige Studentenschaft im Visier. So beobachtet der amerikanische Psychologieprofessor Jonathan Haidt in seinem Buch ›The Fragile Generation‹ eine fragile, überempfindliche Studentengeneration, die sich der Welt und ihren Konflikten nicht mehr stellen will: »Kinder brauchen die Erfahrung von Konflikten, Beleidigungen, Exklusion – sie müssen diese Erfahrungen tausend Mal machen, wenn sie jung sind, um sich zu einem psychologisch reifen Erwachsenen entwickeln zu können.« Er meint eben die Vertreter jener Generation, die Universitäten als sogenannte Safe-Spaces verstehen, als geschützte Räume oder besser Wohlfühlblasen, die im Namen von Identitätspolitik und politischer Korrektheit frei von Ideen und Wörtern gehalten werden sollen, die ihnen Unwohlsein bereiten.

Letztlich haben wir es mit Phänomenen zutun, die den Weg schnurstracks in die Verkindung, die unendliche Verlängerung einer behüteten, vollumsorgten Kindheit, vorzeichnen. An seinem Ende steht die Vollkaskoversorgung mit Wünschen und ihrer möglichst reibungslosen Befriedigung. Negative Erfahrungen sollen dabei nach Möglichkeit verbannt bleiben. Der dadurch entstehende Verlust könnte größer nicht sein. Der Mensch als umfassend saturiertes Wesen ist zu nichts Eigenem, Gewolltem und damit Erreichtem mehr fähig: Sein Wille versetzt höchstens noch Zwerge.


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