»Man muss ein biss­chen Remmi­demmi machen«




Das große Interview


Harald Welzer

Harald Welzer


»Man muss ein biss­chen Remmi­demmi machen«

Das große Interview








Ob Klimawandel, Digitalisierung oder zunehmende soziale Ungerechtigkeit – wer auf die Gesellschaft der Gegenwart schaut, gewinnt den Eindruck, dass wir wie hypnotisierte Kaninchen vor den Herausforderungen der Zukunft sitzen. Wir haben mit dem­ Sozialpsychologen Prof. Harald Welzer über die Frage gesprochen, wie wir dennoch ein lebenswertes Morgen gestalten können.


Das Interview führte Tim Turiak mit freundlicher Unterstützung der Tonhalle Düsseldorf.



Herr Welzer, Sie beschäftigen sich mit der Frage, wie denn eine positive Zukunft aussehen kann. Was ist denn an unserer Gegenwart so schlecht?

Falsche Frage. Mich interessiert, was an der Gegenwart gut ist. Während sich alle anderen furchtbar dafür interessieren, was an der Gegenwart schlecht ist. Mein Ausgangspunkt besteht darin, zu sortieren, was gerade gut ist, was dafür die Voraussetzungen waren, um diese Voraussetzungen aufrechtzuerhalten und damit weiterzuarbeiten.

Was ist denn gut?

Freiheit, Lebenserwartung, Gesundheit, Sicherheit, Teilhabe, Demokratie, Freundlichkeit.

Ich könnte etwas böswillig unterstellen, dass wir auf die Gesundheit, Sicherheit, Teilhabe derjenigen Menschen pfeifen, die für uns in den Sweatshops Asiens Mickey-Maus-T-Shirts zusammennähen oder in irgendwelchen Löchern Afrikas seltene Erden für unsere iPhones ausbuddeln. Die materiellen Bedingungen unserer liberalen Gesellschaft entstehen auf Grundlage ihres Gegenteils.

Völlig richtig. Aber macht das den Wert der zivilisatorischen Güter irgendwie geringer? Also mir ist der Stellenwert des Arguments nicht ganz klar. Man kann ja sagen, sie kommen auf der falschen Grundlage zustande. Aber entwertet das den Wert dieser zivilisatorischen Güter?

Nein. Aber sollten wir nicht etwas an den Grundlagen ändern?

Ja, klar.

Was sollten wir denn tun?

Die Wahrheit sagen. Wir leben in einer Gegenwart, die in vielerlei Hinsicht illusionär und in anderer Hinsicht total verlogen ist. Die Frage nach den Grundlagen wird ja an den relevanten Stellen nirgendwo gestellt: Kein Manager der Autoindustrie wird gefragt, was es mit seiner Wertschöpfungskette auf sich hat. Keiner wird im Bundeskabinett gefragt, wie denn eigentlich unsere Handlungsmöglichkeiten zustande kommen. Aber umgekehrt wird auch niemand gefragt, wie es denn möglich wäre, das, was ich zivilisatorische Güter nenne, aufrecht zu erhalten, indem man anders wirtschaftet und an Unternehmen und an die Politik genau diese Frage adressiert. Da haben wir ein riesiges Defizit. Tatsächlich haben wir eine unglaublich verkleisterte Realitätswahrnehmung. Wenn ich zum Beispiel höre, dass wir eine Wissensgesellschaft seien, könnte ich mich totlachen. Wir sind eine Gesellschaft, die ganz systematisch Menschen beibringt, wie man Wissen vermeidet. Beispielsweise Wissen über das Zustandekommen des Reichtums, Wissen über die ökologisch negativen Effekte unserer Lebensweise. Man muss einfach mal mit dem Lügen aufhören.

Warum können wir nicht einfach so weitermachen?

Es geht materiell nicht. Das ist ein Illusionstheater oder magisches Denken. Wir kommen nicht durch das 21. Jahrhundert – oder nur die Reichsten und am besten Gestellten von uns, und die anderen halt nicht. Vorausgesetzt man hat ein normatives Fundament, das sagt: Es gibt so etwas wie Menschenrechte, es gibt so etwas wie einen Generationenvertrag. Und dann muss man eben sagen: Es geht nicht. Aber das sagt keiner. Jedenfalls sagt es niemand von den relevanten Funktionseliten. Die sagen alle: Das geht. Das ist wirklich eine Lüge!

Wir könnten zynisch agieren und sehr hohe Mauern bauen, um zumindest den Rest der Welt auszusperren.

Das kann man alles machen, es funktioniert aber nicht. Denn wenn es ums Überleben geht, lassen sich Menschen von nichts abhalten. Das Konzept Mauer wird ja seit einigen tausend Jahren erprobt und zwar mit großartiger Erfolglosigkeit. Auch die Berliner Mauer hat nicht funktioniert. Es ist auch eine dämliche Vorstellung, dass man Menschengruppen, denen es ums Überleben geht, durch irgendwelche Abschottungsmaßnahmen von dem Wunsch abhalten könnte, leben zu wollen. Wenn jemand leben will, dann macht er alles. Mal ganz davon abgesehen, dass es nicht nur strohblöde ist, sondern einfach auch antizivilisatorisch. Wir haben die Möglichkeiten eine Welt zu gestalten, wo Mauern überhaupt nicht nötig sind.

Vieles, was wir heute als Erkenntnisse feiern, ist schon sehr alt. Schon die ersten Astronauten kehrten mit dem Bild eines Planeten zurück, auf dem alles mit allem verbunden und dessen Lebensraum sehr fragil ist. Noch früher sprach Buckminster Fuller von der Erde als Raumschiff mit begrenzten Ressourcen, mit denen wir entsprechend haushalten müssen. Eigentlich ist doch alles klar. Warum stecken wir nach wie vor in der Patsche?

Wenn wir über kapitalistische Gesellschaften sprechen, dann sprechen wir von einem extrem erfolgreichen System, das der Mehrheit derjenigen, die innerhalb eines solchen Systems leben, große Vorteile offeriert. Das heißt, dass das, was in langfristigen ökologischen und Gerechtigkeitsperspektiven nicht funktionieren wird und an vielen Stellen heute schon nicht funktioniert, einem Funktionieren im Sinne der Ausweitung von Lebenschancen und materiellen Möglichkeiten gegenübersteht. Und da das alles Dinge sind, von denen ich, wenn ich Glück habe, unmittelbar profitieren kann, sind die langfristigeren, abstrakteren Güter immer auf der Verliererseite. Was ich meiner Zunft ankreide, ist, dass man sich seit ewigen Zeiten keinerlei Mühe gemacht hat, eine konkurrenzfähige Geschichte zu erzählen. Denn die Geschichte, die hier erzählt wird, ist unglaublich wirkmächtig und attraktiv. Man muss nur einmal die nächste Straße ablaufen: Da ist links der Vietnamese und rechts der Türke, zwischendurch gibt’s den Ökoladen und ein Lampengeschäft. Es ist ja keine Lüge, dass man alles haben kann, sondern es wird jederzeit bestätigt. Jedenfalls für den größten Teil der Bevölkerung. Was habe ich dem denn entgegenzustellen?

Was haben Sie dem denn entgegenzustellen?

Nun, jedenfalls nicht die Öko-Askese, und noch weniger sind es Stock-im-Arsch-Begrifflichkeiten, mit denen man oft meint, Menschen überzeugen zu können: „Suffizienz“, „Resilienz“, „Genügsamkeit“ oder „Haltet ein“. In welcher Weise ist das konkurrenzfähig zu dem, was wir hier 24 Stunden am Tag vorgeführt bekommen? Da sagt doch jeder sofort: Nee, das hier finde ich besser. Ich möchte jetzt lieber das Thai-Food haben. Ganz ungenügsam, meinetwegen mit Huhn.

Wenn wir mal ein positives Bild zeichnen wollen: Wie sieht ein Gegenentwurf aus? Was sind für Sie Bausteine?

Für mich gibt es Bausteine, die eine sehr große Nähe zur Gegenwart und zum Gegebenen haben und welche, die etwas weiter davon entfernt sind. Ein Modell von solidarischer Arbeit, in dem ein Fünftel der Arbeitszeit oder auch der Schulzeit für ehrenamtliche und am Gemeinwohl orientierte Tätigkeiten reserviert ist, kann man sofort umsetzen. Das ist nur eine Angelegenheit von gesetzlichen Rahmenbedingungen und Tarifverträgen. Die Abschaffung von Grenzen oder die Einrichtung eines zwischenstaatlichen Gewaltmonopols ist zugegebenermaßen eine fernere Utopie.

»Aber diese Sorte Mann brauchen wir eh nicht mehr.«

Ein großer Teil der Zukunft wird in den Städten entschieden, allein weil hier die meisten Menschen leben. Was muss sich da verändern?

Wir müssen erstmal aus der Stadt rausschmeißen, was uns in der Bewegungsform, im Wohnen, in der körperlichen Befindlichkeit am meisten beeinträchtigt, und das ist das Auto. Das Auto ist eigentlich im 19. Jahrhundert erfunden worden, aber es ist das Verkehrsmittel der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das hat mit dem wachsenden Wohlstand, der Abkehr von Zwangsgesellschaften und damit zu tun, wie groß die Freiheits- und Autonomiebedürfnisse zu dieser Zeit gewesen sind. Das Auto und das Motorrad sind die Objekte gewesen, die am stärksten die Ideale von Freiheit und Autonomie verkörpert haben. Hartmut Rosa nennt das ›Weltreichweite‹. Das Auto verspricht Weltreichweite und verspricht sie nicht nur, sondern realisiert sie auch. Das hat natürlich schon früh zu gravierenden Problemen geführt: zum Beispiel zur Suburbanisierung. Sprich: Man zieht aufs Land, das sich dann in Windeseile zu Suburbs entwickelt. Dazu entsteht ein Pendlerverkehr, der nicht nur die Menschen unglücklich macht, sondern auch energetisch und ressourcenmäßig eine Katastrophe ist. Heute haben wir eine Situation, in der verschiedene Faktoren zusammen kommen: Durch die Digitalisierung könnte man einerseits weitaus bessere Verkehrssysteme aufbauen. Andererseits befördert die Digitalisierung – und das ist die andere Seite der Medaille – eine atomisierte Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der sich Menschen immer weiter vereinzeln und weniger Gemeinsamkeiten pflegen. Und jetzt muss man sich nur mal vorstellen, was passiert, wenn man die Autos aus der Stadt rausschmeißt: Man hätte schon rein flächenmäßig ganz andere Möglichkeiten, die Begegnungsqualität von Städten zu erhöhen. Das bedeutet, man würde die Städte wieder ihren Bewohnerinnen und Bewohnern zur Verfügung stellen. Das umfasst mehr Sicherheit, mehr Bewegungs- und Begegnungsraum, weniger Lärm, weniger Emissionen und Geländegewinne in einem ganz buchstäblichen Sinne. In einer Zeit, in der man jeden Tag über Mietpreis-Explosionen und Wohnungsnot redet, ist es überhaupt nicht einsehbar, wieso das Auto und die von ihm belegte Fläche nicht in der Diskussion vorkommen. Wenn ich das Ding rausschmeiße, geht das in den Städten an keiner Stelle mit irgendeinem Freiheitsverlust einher, sondern ich löse eine ganze Kaskade von Problemen oder führe sie einer Lösung näher. Und deshalb stelle ich mir die Stadt – nicht die der Zukunft, sondern der nahen Gegenwart – ohne diesen Blechmüll vor.

Verzeihung, Sie wollen ausgerechnet den Deutschen das Auto wegnehmen? Autos sind doch nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch Instrumente, überschüssiges Testosteron zur Ader zu lassen: Sie sind die letzten Asyle des Männlichen.

Ja, das kann sein. Aber diese Sorte Mann brauchen wir eh nicht mehr. Falls überhaupt jemals diese Sorte gebraucht wurde.

Und wie sieht es mit der Verantwortung gegenüber den Arbeitsplätzen in der Automobilindustrie aus?

Es gibt niemanden in der Wirtschaft, der verantwortungsloser mit Arbeitsplätzen umgeht als die deutsche Autoindustrie: Wenn ich eine gesellschaftlich relevante Industrie zu verantworten habe, dann muss ich mir rechtzeitig darüber Gedanken machen, wie ich diese Industrie in den nächsten Jahrzehnten über die Runden bringe. Die Autoindustrie hätte sich vor mindestens 30 Jahren mit der Fragestellung beschäftigen müssen: Was bieten wir eigentlich an? Und während alle heute immer noch blubbern: Wir bieten die modernsten, sichersten, komfortabelsten Autos an, hätten sie sagen müssen: Wir bieten Raumüberwindung an. Wenn man so gedacht hätte, dann wäre man viel früher darauf gekommen, was zum Beispiel Carsharing ist, das zivilgesellschaftlich erfunden wurde und nicht etwa von BMW. Man hätte viel früher darüber nachdenken können, wie ein modular vernetzter, öffentlicher Nahverkehr aussehen und welche Rolle möglicherweise das Auto darin spielen kann. Das alles hat man nicht getan, weil man stumpfsinnig davon ausgegangen ist, dass der Bedarf nach Autos nicht sinkt und die Testosteron-Abteilung über alle kommenden Generationen hinweg eine Rolle spielt. Heute wissen wir, dass das nicht der Fall ist. Junge Menschen sind heute klüger: Die interessieren sich nicht dafür. Dennoch hegt die Autoindustrie bis heute die idiotische Vorstellung, dass die Welt darin besteht, dass sich immer neue Märkte auftun, in denen man immer denselben Plunder reinwerfen kann. Das ist verantwortungslos, weil es in keiner Weise in Rechnung stellt, dass die Welt in ständiger Veränderung begriffen ist. Und wir wissen das natürlich aus der Industrie­geschichte, auch aus der jüngeren, dass Unternehmen, die nicht rechtzeitig antizipieren, wie sich die Welt verändern wird, weg vom Fenster sind. Sie sind insbesondere dann weg vom Fenster, wenn sie wahnsinnig erfolgreich gewesen sind: Als Nokia realisiert hat, dass das Smartphone wichtig ist, waren sie schon tot. Genauso wie die Autoindustrie heute eigentlich eine Leiche ist, der noch niemand gesagt hat, dass sie eine Leiche ist.

Nehmen wir an, dass Digitalisierung und Robotisierung Millionen der heutigen Arbeitsplätze überflüssig macht: Wie lässt sich die soziale Spaltung der Gesellschaft verhindern?

Die Idee Nummer eins ist allseits bekannt: Es ist das bedingungslose Grundeinkommen. Denn man muss natürlich als allererstes das Existenzielle abfedern, so dass niemand auf der materiellen Ebene deklassiert wird. Natürlich bin ich nicht so naiv zu behaupten, dass wir kein Sinnproblem hätten, wenn Menschen von heute auf morgen millionenfach freigesetzt werden. Das ist mit dem Materiellen nicht gelöst. Aber auf der anderen Seite ist es so, dass man sehr viele Bereiche hätte, in denen man sagen kann: Na gut, wir brauchen ehrenamtliches Engagement in den unterschiedlichsten Formen, etwa wenn es darum geht, im Sinne der Ressourcenschonung Dinge zu reparieren. Es gibt viele Qualifikationen, die vielleicht im klassischen Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht werden, die aber in ganz anderen gesellschaftlichen Bereichen eine absolut extrem wichtige Rolle spielen können. Da muss man sinnstiftende Angebote entwickeln.

Wer steht denn morgens in der Bäckerei und verkauft mir die Brötchen, wenn sich alle auf dem bedingungslosen Grundeinkommen ausruhen?

Das bedingungslose Grundeinkommen gewährleistet nur das untere Level. Das heißt, dass man keine existenzielle Angst haben muss, man fällt nicht in die radikale Armut oder in die Obdachlosigkeit. Insofern ist es materiell nicht als Dauerzustand attraktiv. Es ist attraktiv für Leute, die sagen: Ich brauche nicht mehr. Ich komme damit klar. Mir ist die Zeit lieber. Aber die weit überwiegende Mehrheit wird sagen: Ich möchte gerne Urlaub machen. Ich möchte gerne teure Bücher kaufen. Ich möchte gerne dies und das und jenes. Und insofern wird derselbe Antrieb zu arbeiten wie heute da sein – nur ohne den Druck, es machen zu müssen. Das heißt, dass man sich ein Sabbatical nehmen, sich beruflich umorientieren oder ein halbes Jahr gar nichts tun kann, sondern nachts in die Sterne gucken und tagsüber schlafen. All das ist möglich, und an der Summe der geleisteten Arbeit wird sich trotzdem nichts ändern. Die Menschen arbeiten aus den verschiedensten Gründen: sei es, weil es ihre Identität definiert, sei es, weil sie sich was leisten wollen, sei es, weil sie sich in dem beweisen wollen, was sie können, sei es, weil sie ein besonderes Verantwortungsgefühl brauchen oder eben besonders machtbesessen sind.

Wo wir gerade über Macht sprechen: Eine Folge des Grundeinkommens wäre, dass ich meine Arbeitskraft nicht mehr um jeden Preis zu Markte tragen muss: weder monetär betrachtet noch was die seelischen Kosten angeht. Ich bin nicht mehr Heinchen Blöd als Vorgesetztem auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ich kann jederzeit sagen: Nee, nicht mit mir! Macht würde in der Folge neu verteilt werden. Müssen davor nicht die bestehenden Unternehmen mit ihren Hierarchien und Wut-Chefs schreckliche Angst haben?

Natürlich werden Menschen freier. Aber es gibt ganz unterschiedliche Interessen, die mit der Idee des Grundeinkommens verbunden sind. Man muss ja sofort hellhörig werden, wenn CEOs von großen Unternehmen für das bedingungslose Grundeinkommen sind. Die sind natürlich wegen der Probleme, die wir schon diskutiert haben, dafür: nämlich die massenweise Freisetzung von Arbeit, als Arbeitslosigkeit. Da sagen die: Damit wollen wir nichts zu tun haben. Dann sind wir ja exkulpiert. Daneben gibt es Gegner des Sozialstaates wie die FDP. Die finden es super, wenn man sagt: Okay, wir schaffen mit dem Grundeinkommen alles andere an Leistungen ab und brauchen darüber in Zukunft gar nicht mehr zu sprechen. Dann gibt es diejenigen, die wie ich argumentieren und sagen: Das nimmt Druck aus dem System. Es gibt psychologische, sozialpsychologische, ökologische Vorteile und darüber hinaus rein humanistische Argumente. Es ist auch eine historische Verirrung, dass man, wie die Sozialdemokraten, nicht anders denken kann, als dass Sinnstiftung nur über Arbeit – und sei es abhängige Arbeit – herstellbar ist. Auch da kriegen wir eine neue Perspektive, wenn wir feststellen: Nein. Leute können die Sinnstiftung, die man wahrscheinlich für das Leben braucht, auch ganz anders herstellen.

»Es ist geil bezahlte Arbeit, aber sonst schädlich.«

Der Säulenheilige Simon lebte vergnügt auf einer Stele. Er hat sich seinen Sinn auf wenigen Zentimetern geschaffen. Der Mensch besitzt diese besondere Fähigkeit: Er kann sich Sinn unter den seltsamsten Bedingungen herstellen.

Ja. Er kann es. Wenn er nicht den ganzen Tag Net­flix guckt. Sondern zum Beispiel Bilder malt oder ein Stück Wald pflegt. Es gibt ja tausende von Möglichkeiten. Trotzdem werde ich immer wieder gefragt, wie man sich denn überhaupt vorstellen kann, dass so ein arbeitsloses Leben irgendwie Sinn haben könnte. Und da muss man doch zurückfragen: Hat denn ein Monsanto-Chemiker Sinn? Hat der Sinn, wenn seine Hauptaufgabe darin besteht, eine naturzerstörende Form von Technologie zu entwickeln, die Hunderttausende von Bauern abhängig macht? Hat denn ein Topmanager Sinn, wenn er verantwortlich dafür ist, betrügerische Software zu entwickeln? Ist das sinnhafte Arbeit, die da gemacht wird? Nein. Es ist geil bezahlte Arbeit, aber sonst schädlich.

Wie finanziert man das bedingungslose Grundeinkommen?

Ganz einfach. Man muss aufhören, das Arbeits­einkommen als primäre Steuerquelle heranzuziehen, dafür Kapitaleinkünfte höher besteuern. Ob Finanztransaktionssteuer, ob Digitalsteuer – im Grunde genommen müssen die Leute in den Finanzämtern eine nachgerade unerschöpfliche Fantasie haben, wie man neue Steuerquellen erschließt. Dann sollen die das doch mal machen.

Apropos Utopie. Utopie klingt immer ein bisschen nach Dr. Snuggles im Land am Ende des Regenbogens. Wenn wir sagen, etwas sei doch utopisch, dann meinen wir: Das schaffen wir nicht. Das ist illusionär. Wie wird denn aus den Bildern einer besseren Zukunft eine utopische Praxis?

Indem es konkrete Utopien sind. Die müssen hin­reichend dicht an unserer Wirklichkeit sein, dass man sie mindestens einmal an einer Stelle realisieren kann. Die Utopie von der autofreien Stadt muss es irgendwo mal geben, und dann kann man sagen: Guckt euch das mal an. Fragt die Anwohner: Wie ist es denn da so? Dann sagen die: total super. Das ist übrigens auch die Durchsetzungsfrage für erneuerbare Energien gewesen. Da hat vorher auch jeder gesagt: Ja, aber das geht doch nicht! Aber wenn ich die Referenzprojekte habe, anhand derer ich zeigen kann, dass es funktioniert und dass es besser funktioniert als vorher, dann kann ich diese Utopien attraktiv machen. Aber ich muss sie aus dem Konjunktiv rausnehmen.

Wie bringt man diese utopischen Feldversuche zum Wachsen? Ist es einfach damit getan zu sagen: Das sind die Beispiele, und es funktioniert doch!

Ja. Natürlich spielt aber auch die Politik eine Rolle, die die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür schaffen muss. Aber auch die kommt nur aus dem Quark, wenn es genug Druck von unten gibt. Ansonsten interessieren mich diese Fragen nicht. Ich lehne es methodisch ab, mir immer, bevor ich anfange, das Mögliche zu denken, mir gleich Gedanken darüber zu machen, ob das am Ende auch noch der letzte Depp gut findet oder übernimmt. Wenn ich etwas gut finde, versuche ich es in die Welt zu setzen, und dann hat man den ›Proof of the Pudding‹. Dann kann man im Zweifel immer noch feststellen: Aha, das war ja wohl nichts. Dann schafft man es eben wieder ab. Aber dieses ›Ich muss immer an die Mehrheiten denken‹ – das ist ja der blödeste Gedanke, den man überhaupt haben kann. Wenn man als Fotograf arbeitet und dabei ständig da­rüber nachdenken würde, dass man die Mehrheiten erreichen muss, würde kein einziges gelungenes Foto entstehen. Für Musik gilt das Gleiche. Ganz egal, worüber wir reden: Keiner würde mehr irgendetwas Vernünftiges machen.

Lieschen Müller arbeitet acht Stunden am Tag. Dann hat sie abends noch die Kinder und muss sich entscheiden: Ich packe jetzt die Welt an oder ich gucke Netflix. Wie überreden Sie die denn jetzt?

Erstens kommt es mir darauf an, dass ich mir selber erst mal glaube. Ich halte es gar nicht für den ersten Schritt, andere überzeugen zu wollen. Ich kenne das aus ganz vielen Diskussionen: Bevor die Leute darüber nachdenken, was sie selber denn ändern könnten, melden sie sich immer und sagen: Ja, wir hier am Tisch finden das ja alles total gut. Aber was ist denn mit denen da draußen – wahlweise den Chinesen, den Arbeitslosen, den Netflix-Guckern. Immer ist irgendwer das Problem, nur nicht der, der spricht. Und dann gibt es einen zweiten Punkt: Lieschen Müller ist ja vielleicht viel cooler als Dieter Zetsche. Denn es könnte ja sein, dass Lieschen Müller an einer super Aktion arbeitet, um krebskranken Kindern zu helfen. Da kann ich Ihnen sofort eine Geschichte zu erzählen: Ich war mal an einer Auszeichnung beteiligt, die an Leute vergeben wurde, die sich ehrenamtlich engagieren. Und da war eine Frau als Preisträgerin in der engeren Wahl, die patchworkartige Kissenhüllen produziert hat. Arrogant wie ich bin, habe ich zuerst gedacht: Wie blöd ist es denn, irgendwelche doofen Kissen zu machen? Und dann habe ich mir das genauer angeguckt und gesehen, dass die aus gebrauchten Sachen Stories zusammengenäht hat: Jedes Kissen war eine Geschichte. Und jetzt stelle man sich ein fünfjähriges Kind im Krankenhaus vor. Wie schön es ist, so ein Kissen zu haben. Geniale Idee! Nun ist diese Frau Hartz-IV-Empfängerin und lebt gesellschaftlich im totalen Off. Niemand beachtet die, obwohl sie etwas gesellschaftlich total Sinnvolles macht. Übrigens mit dem Problem, dass man ihr keinen Preis geben kann: In unserem System wird ihr das sofort von ihren Bezügen abgezogen. Denn das ist ja ein Zuverdienst, den sie nicht haben darf. Und da merkt man diese ganze Verzerrung unserer Wahrnehmung: Was so jemand macht, ist unglaublich toll. Mehr geht gar nicht. Das ist Lieschen Müller!

Trotzdem soll es Menschen geben, die sich unter Zukunft bloß eine Fortschreibung des Jetzt vorstellen: also eine bequemere, leichtere, noch konfliktfreiere Gegenwart. Was sagen Sie denen?

Mir ist nicht klar, warum das Leben noch bequemer sein muss. Das verstehe ich nicht. Mir ist etwa vollkommen unklar, wie man auf die Idee kommen kann, sich ein Alexa-von-der-Stasi-Gerät in die Wohnung zu stellen. Als sei es schwierig, einen anderen Menschen etwas zu fragen oder um etwas zu bitten oder selber seinen Arsch zu bewegen. Ich weiß nicht, was dieser Bequemismus, also die ständige Steigerung von Passivität soll und wo die Herausforderung dabei ist: Was haben die Leute davon? Was macht die Faszination aus, sich immer weiter entmündigen zu lassen? Was macht die Faszination aus, nicht mehr die Scheibenwischer im Auto anmachen zu dürfen? Was soll das?

Darauf haben Sie keine Antwort?

Ich habe eine abstraktere Antwort: Es gibt eine große Attraktivität der Nicht-Entscheidung. Weil Nicht-Entscheidung bedeutet: Ich bin es nicht, ich habe keine Verantwortung. Also kann ich auch niemals gefragt oder zur Rechenschaft gezogen werden. Ich kann in jeder Hinsicht passiv sein, so dass immer irgendwas anderes statt meiner verantwortlich ist: Ich bin nicht schuld! Das System! Ich mache die Regeln nicht! Selbst ein CEO, der den Shareholdern gegenüber verantwortlich ist, ist auch nicht verantwortlich. Zygmunt Bauman hat das Adiaphorisierung genannt, was die Suspendierung von Verantwortung meint, indem man sagt: Ich bin nur ein unwesentlicher Teil in einer Handlungskette.

»Natürlich ist Wut eine Produktivkraft.«

Unterstellen wir, dass Gesellschaften träge und veränderungsunwillig sind. Woraus bestehen denn die Gegenkräfte zur Trägheit? Mir fällt sofort Wut als produktive Kraft ein. Es gibt ja weltverändernden Zorn: in Form von Revolution, rollenden Köpfen, mindestens aber ein bisschen Säbelrasseln.

Sie kennen die berühmte Geschichte der Elektrizitätswerke Schönau? In Schönau haben Bürger die Energieversorgung selbst in die Hand genommen. An deren Spitze stand die Familie Sladek. Und wenn man die Sladeks fragt, warum sie das gemacht haben, sagen sie: aus Wut. Weil sie nach Tschernobyl so wütend auf die Energiewirtschaft und die deutsche Regierung gewesen sind, dass sie die Initiative ›Stromrebellen‹ gegründet haben. Und darum: Natürlich ist Wut eine Produktivkraft. Und da sind wir mit den ›Fridays for Future‹ schnell bei einem aktuellen Beispiel: Die sind wütend. Und das finde ich total gut, das muss man auch unterstützen.

Wenn man sich Massenbewegungen anschaut, gab es immer wieder Figuren, die die Hoffnungen, Ängste und den Zorn einer Zeit auf sich vereinigt haben. Braucht es, um Veränderungen herbeizuführen, charismatische Figuren, die wie Moses sagen: ›Wir müssen jetzt durchs Rote Meer?‹

Ja. Ich glaube, es gibt die Notwendigkeit. Es ist ja kein Zufall, dass jetzt alle über Greta Thunberg reden. Mehr als über die Bewegung selber. Davon mal abgesehen: Was sind denn unsere Privathelden? Worüber redet man denn? Über Sophie Scholl, Martin Luther King, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela oder Rosa Luxemburg. Ohne diese Figuren geht es nicht, weil sich eine Bewegung auch identifizieren oder in etwas symbolisieren können muss. Deshalb ist es so ein Glücksfall, dass es diese Greta gibt. Gleichzeitig ist es natürlich tragisch für sie selber, weil es vermutlich eine extreme Überforderung ist. In der Situation will man ja nicht sein.

Greta ist ja im Grunde eine moderne Kassandra-Figur. Kassandra sagte einst voraus, dass Troja fallen wird: Sie wurde von Apoll mit der Gabe der Vorsehung beschenkt. Doch das Geschenk hatte den Pferdefuß, dass ihr keiner glauben wird. An Greta ist spannend, dass man ihr nicht mit Argumenten begegnet, sondern laufend die Glaubwürdigkeit ihrer Person in Abrede stellt, also versucht, sie als Figur zu beschädigen. Woher kommt dieser irrationale Unmut, der der jungen Frau da entgegenschlägt?

Ganz einfach: Man hat Angst, dass es nicht so weitergeht wie bislang. Denen geht allen der Stift. Mindestens unbewusst, sonst würde es diesen Affekt nicht geben oder diese bekloppte Fantasie, die sei jetzt von irgendwem beauftragt. Jemand, der so etwas denkt, weiß, wovon er redet. Ich habe mal im Zug eine Situation erlebt, in der neben mir ein Typ aus der Medizin­wirtschaft saß, der sich mit einem Gesetzesvorhaben beschäftigt hat. Und dann telefonierte der und sagte: Pass auf, da setzen wir einen Lobbyisten dran und der kriegt das und das Salär für ein halbes Jahr. Und da habe ich gedacht: Ach, so geht das. Und Leute, die glauben, Greta ist von irgendwem beauftragt, denken das, weil sie ständig irgendwen beauftragen oder von jemandem beauftragt sind. Die können sich überhaupt nicht vorstellen, dass die das jetzt macht, weil sie es für richtig hält und die ganzen Kids das genau verstehen und deshalb dasselbe machen wollen. Das können die gar nicht denken! Insofern fällt all das, was gegen die Person eingewandt wird, im Grunde immer auf diejenigen zurück, die so etwas argwöhnen.

Der CDU fällt nichts Schlaueres ein, als den demon­strierenden Schülern mit Einträgen in den Zeugnissen zu drohen. Christian Lindner sagt, der Klimawandel sei ein komplexes Problem, da müssten die Profis ran. Gleich­zeitig herrscht in der Politik eine große Mut- und Visionslosigkeit. Was sagt uns das?

Zunächst einmal finde ich es interessant, dass die Gretas dieser Welt eine andere Argumentation etablieren. Die lassen sich auf den Quatsch nicht ein. Es gab zum Beispiel ein Gespräch zwischen Herrn Altmaier und Luisa Neubauer, die bei den deutschen ›Fridays for Future‹ eine wichtige Rolle spielt. Altmaier sagt: »Ja, aber wenn Sie als Erwachsene die Welt verändern wollen, dann studieren sie doch ordentlich.« Daraufhin sagt sie Herrn Altmaier: »Es handelt sich hier um ein Missverständnis. Wir wollen nicht als Erwachsene die Welt verändern, sondern Sie als Entscheidungs­träger unter Druck setzen.« Und das versteht er natürlich nicht. Thunberg sagt: »Ihr müsst das Nötige machen, nicht das politisch Machbare.« Damit etabliert sie ein Narrativ, was völlig neben, unter oder über diesem ganzen Textbaustein-Bla-Bla läuft. Und da kommt die Politik nicht ran. Da liegt große Kraft drin. Das hat es ganz lange nicht gegeben, dass eine gesellschaftlich relevante Gruppe – und in diesem Fall sind es Kinder – sagt: Ihr macht überhaupt nichts! Damit kann die Politik nicht umgehen. Wenn irgendwelche Klimawissenschaftler sagen, wir haben hier das Szenario, und das sieht sehr schlecht aus, antwortet die: Total super! Braucht ihr mehr Forschungsgelder?

Was muss denn passieren, damit die Politik aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht?

Eine erfolgreiche soziale Bewegung arbeitet immer mit zivilem Ungehorsam. Das heißt: Man muss ein bisschen Remmidemmi machen. Im Idealfall müssen diejenigen, die sich jetzt solidarisieren – ›Scientists for Future‹, ›Parents for Future‹ – sich eben nicht nur solidarisieren, sondern selbst dasselbe machen. Die Wissenschaftler sollen deshalb mal aufhören zu forschen und sagen: Machen wir jetzt nicht mehr. Wir machen jetzt ›Fridays for Future‹. Institut zu. Kein Gutachten. Keine Stellungnahme. Und das gilt für alle anderen gesellschaftlichen Gruppen auch. Und dann würden sie schon ins Nachdenken kommen.

Und dürfen sich unsere Leser entspannt in den Ohrensessel lehnen oder müssen die jetzt selbst auch noch was tun?

Die Veränderung der Welt ist eine Aufgabe, die man nicht delegieren kann.


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2 Kommentare



  1. Danke Harald .
    Deine hands-on Sprache liest sich so , als ob du gerade mit am Tisch sitzt, um gleich mit den aufmüpfigen in Schwung zu kommen.
    Ja wir brauchen breiten Ungehorsam und widerworte an die, die den ungesunden status quo verteidigen.
    Wenn ich Politiker und andere charakterlich deformierten Machtzombies sehe , wünsche ich mir ein Gesetz , was einen mentalen gesundheitscheck für Führungskräfte verlangt.
    Wer durchfällt ist raus…
    Die frei werdenden Positionen werden unter den in System- streik getretenen Menschen mit entsprechendem Sachverstand vergeben. 50% frauenquote und die welt ändert sich …




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