»Man muss Wider­sprüche zu­lassen.«



Das große Interview


Guillaume Paoli

Guillaume Paoli


»Man muss Wider­sprüche zu­lassen.«

Das große Interview








Will man dem Philosophen Guillaume Paoli glauben, winkt uns am Anfang des 21. Jahrhunderts nicht der freie Mensch, sondern ein normierter, angepasster Angsthase. Wir haben mit dem Wahlberliner über Safe Spaces, Konflikttoleranz und die Freiheit des Künstlers gesprochen.


Das Interview führte Tim Turiak mit freundlicher Unterstützung der Tonhalle Düsseldorf.



Wenn man von Freiheit spricht, müsste man zunächst fragen: Freiheit für wen?

Unbedingt! Das Problem mit dem Begriff der Freiheit ist folgendes: Es gibt in der Welt keine Ideologie, keine Theorie, keine Religion, die gegen die Freiheit ist. Alle sind für die Freiheit. Wenn Sie 99,9 Prozent der Menschen fragen, sagen sie: Ich bin für Freiheit. Nur ist dann die Frage: Welche Freiheit? Für wen? Wie sieht die aus? Man muss also wie in einem Vertrag das Kleingedruckte lesen.

Ich bin für die Freiheit, aber …

Genau. Es kommt auf die Definition an. Auch amerikanische Sklavenbesitzer verstanden sich damals als liberal. In ihren Augen war die Abschaffung der Sklaverei ein Angriff auf ihre Unternehmensfreiheit. Das heißt, man kann es auch so definieren: Die Freiheit der einen ist die Sklaverei der anderen. Oder nehmen Sie die berühmte Freiheit des Fuchses im freien Hühnerstall. Die Metapher ist von Marx und beschreibt die privatwirtschaftliche Freiheit in ungleichen sozialen Verhältnissen. Der Fuchs ist um einiges freier als die Hühner. Und wenn man nun einen Zaun baut, um den Fuchs und die Hühner zu trennen, dann wird der Fuchs natürlich sagen: Das ist ein Eingriff in meine Freiheit. Regeln würden in diesem Fall die Schwachen schützen, während die Freiheit den Stärkeren schützt.

Wo wird denn heute Freiheit verhandelt und gegebenenfalls neu bewertet? In den Feuilletons, in der Kunst, auf den Bühnen unserer Kulturinstitutionen wie den Museen, Konzerthäusern, Theatern?

Es ist schwer über Institutionen, selbst über Kulturinstitutionen allgemein zu sprechen. Zumindest im Theater stellt sich im Moment verstärkt die Geschlechterfrage. Theater sind ja in der Regel hierarchische, fast feudale Systeme, die unverschämt männerdominiert sind, und das ohne Grund. Im Moment gibt es dagegen eine Bewegung, die ich sehr gut finde, die aber nicht nur die Unterrepräsentanz von Frauen in Frage stellt, sondern die feudalen Strukturen selbst. Das heißt aber nicht, dass man alle Traditionen über Bord werfen muss. Letztens hat die Schauspielerin Sophie Rois in einer Dankesrede zum Ausdruck gebracht, was sie an der früheren Berliner Volksbühne mochte.

Also an der Ära Castorf.

Genau. Rois sagte, dass sie diese Mischung aus Tradition und Anarchie schätzte. Das war eine sehr gute Definition: Beides ist nötig. Wenn nur Anarchie herrscht, also die totale Freiheit, wird am Ende nichts Kreatives entstehen. Wenn nur die Tradition und feste Strukturen herrschen, passiert auch nichts Interessantes. Es muss also beides geben, und durch ihre Reibung entstehen eben großartige Momente.

An der Volksbühne ist ja etwas Interessantes vorgefallen: Castorf wurde von der Politik geschasst. Er war unliebsam geworden.

Das war eine politische Entscheidung, die eigentlich allein von dem damaligen Kulturstaatssekretär Tim Renner getragen wurde. Und der argumentierte mit der neuen Stadtbevölkerung. Tatsächlich gibt es in Berlin, wie in allen Metropolen der Welt, eine neue globale Klasse, mobile Menschen aus anderen Ländern, die keinen Grund haben Deutsch zu lernen, weil sie sich eben vielleicht nicht sehr lange hier aufhalten werden. In ihrem Beruf sprechen sie sowieso Englisch. Deswegen – so die Argumentation – ist schon das deutschsprachige Theater obsolet. Und deshalb wird jetzt zum Beispiel vermehrt Tanz aufgeführt. Und wenn es eine Inszenierung oder eine Bühneninstallation gibt, dann auf Englisch mit deutschen Übertiteln. Am Ende bleibt es jedoch eine Behauptung, die ich und auch viele andere für unsinnig halten. Wenn kulturinteressierte Menschen nach Berlin kommen, wollen sie eben auch ein Stück Berlin mitnehmen. Und nicht etwas, das sie genauso in Barcelona oder London sehen könnten.

Man will am Ende doch das lokal Eigene, also eine gewisse Form von Exotismus genießen?

Ja. Das zum einen. Zum anderen sucht man eben auch nach ästhetischen Überraschungen. Zwar redet man ständig von Innovation und Modernität, aber was man eigentlich in dieser globalen Kultursphäre sieht, ist eher konformistisch, und von tatsächlichen Innovationen hat man sehr wenig erfahren. Daneben lebt insbesondere das Theater von einer Auseinandersetzung mit der Stadt, mit der politischen und sozialen Situation.

Geht es auch um Identität?

Das Wort ›Identität‹ ist in dem Fall nicht sehr glücklich gewählt. Ich bin Wahlberliner. Ich will nicht sagen, dass ich eine Berliner Identität besitze. Aber ich bin auch nicht zufällig hier und schätze diese Stadt, ihre Kultur und ihre Geschichte. Das heißt aber nicht, dass ich ›identitär‹ bin. Das ist auch ein Wort, das fast zu einem Schimpfwort geworden ist. Oder von den Rechten beansprucht wird, die natürlich gerne Bilder von Nation, Abendland und Kultur heraufbeschwören, um dann zu fragen: Was gehört zu Deutschland und was nicht? Man kann sich jedenfalls nicht mit diesem Identitätsbegriff identifizieren. Umgekehrt lässt sich schnell zeigen, dass die äußersten Pole der globalen Kultur auch eine Art von Identität bilden. Sie merken das nicht, aber Sie bewegen sich immer in den gleichen Räumen, konsumieren die gleiche Kunst, sprechen eine vereinheitlichte Sprache, haben die gleiche Wahrnehmung. Das merkt man spätestens dann, wenn Sie in irgendeiner beliebigen Galerie in Peking, San Francisco oder Berlin stehen und das Gefühl haben, am selben Ort zu sein. Das ist am Ende auch eine Art Identität, die sich als solche aber nicht wahrnimmt.

Wir behaupten, wir sind pluralistisch und codefrei. Aber da lügen wir uns in die Tasche?

Genau. Wir sind extrem codiert.

In Ihrem Buch ›Die Lange Nacht der Metamorphose‹ beschreiben Sie eine Linie zwischen rückwärtsgewandten Nostalgikern auf der einen Seite und auf der anderen eine neoliberale Elite, die unsere Städte in Hotels verwandelt. Können Sie das näher ausführen?

Ich behaupte nicht, dass die Gesellschaft tatsächlich so ist. Ich behaupte bloß, dass diese Behauptung vorherrscht. Es geht eben genau um das, was ich vorhin mit dem Identitätsbegriff ansprach. Also entweder ist man identitär, oder man hat überhaupt keinen Bezug zur Tradition und keine Verbundenheit zur Lokalität. Wobei die meisten Menschen weder das eine noch das andere sind, sondern irgendwo dazwischen: also sehr wohl auf einigen Traditionen bestehen, aber auch offen sind für Neues. Bloß diese Polarisierung ist schädlich, weil sie eben eine falsche Wahl, eine falsche Alternative stellt: entweder AfD oder du machst eben alles mit in diesem global-kreativen Mittelstandsspektrum.

Sie sagen, die Rhetorik ist schädlich: Können Sie den Schaden beschreiben?

Sie ist schädlich, weil sie die Existenz von vielen Menschen unsichtbar macht. Es braucht dann plötzliche Katastrophen wie die Trump-Wahl oder den Brexit, damit man merkt, dass es doch Leute gibt, die in dieser liberalen Wohlstandsgesellschaft nicht klarkommen. Dabei handelt es sich nicht nur ökonomisch um Globalisierungsverlierer, sondern auch kulturell. Denn auf der anderen Seite baut man sich eine heile Welt in einer gentrifizierten Stadt, in der alles wunderbar ist: ohne Rassismus, ohne Sexismus, und alle kaufen im Bioladen. Dabei vergisst man, dass es sich diese Menschen leisten können, in dieser Blase zu leben. Und sie können das nur, weil die anderen vertrieben worden und nicht mehr sichtbar sind. Dann vernebelt man die soziale Spaltung, indem man wie im 19. Jahrhundert sagt, dass die anderen an ihrer moralischen Armut schuld sind, weil sie eben nicht im Bioladen einkaufen.

»Die einzige Geltung, die man heute hat, ist eben die Geltung als Opfer.«

Und es dann auch noch wagen, die AfD zu wählen. Das ist ja ein großes Ärgernis für den liberalen Geist.

Aber es gibt auch viele, die nicht die AfD wählen und die trotzdem als moralisch minderwertig gebrandmarkt werden.

Die AfD beansprucht, die Stimme des Volkes zu sein, dessen Unzufriedenheit nicht mehr gehört wird.

Ja. Einerseits ›sind wir das Volk‹ und andererseits Opfer. Denn das ist immer dieses Spiel: »Man wird das wohl sagen dürfen«, als ob diese Leute tatsächlich einem Redeverbot unterzogen seien. Sarrazin ist ein prominentes Beispiel, der damit angefangen hat: Der war nicht irgendein anonymer Niemand, sondern saß in Vorständen und Ministerien. Das reichte aber nicht. Er musste sich dann auch als Opfer stilisieren. Die einzige Geltung, die man heute hat, ist eben die Geltung als Opfer.

Man hat Flüchtlinge aufgenommen, und plötzlich herrscht Angst. Warum sollte die nicht berechtigt sein?

Man weiß, dass in den Orten, in denen es die wenigsten Flüchtlinge gibt, die meiste Angst herrscht.

Dennoch beschwört man einen Dämon: den Muslimen. Und der gefährdet möglicherweise meine Freiheit. Wenn ich Gott beleidige, muss ich mit den Konsequenzen rechnen: Je suis Charlie.

Ich habe gestern mit einer Freundin gesprochen, die aus dem Dorf in Frankreich kommt, in dem letzte Woche ein Anschlag stattfand. Sie kannte den Fleischer des Supermarkts, der dort umgebracht worden ist und kennt auch die Siedlung, aus der der Täter kam. Und hier stellt sich die eigentliche Frage, die meiner Meinung nach sehr wenig mit dem Islam zu tun hat: In welchen Zuständen leben diese Menschen? Was sind das für kaputte Siedlungen, in denen sie jeglichen moralischen Kompass verlieren? Der eine wird zum Amokläufer, der andere zu einem islamistischen Attentäter. Der Unterschied besteht nur darin, dass der eine ›Allahu Akbar‹ schreit und der andere nicht. Tatsächlich sind es ja keine Menschen, die aus islamischen Ländern kommen, sondern aus Frankreich oder Belgien. Es sind bis jetzt zumindest nicht die Flüchtlinge, die terroristische Attentate verüben. Die Auseinandersetzung mit dem Islam dient auch dazu, dass man sich nicht der Frage stellen muss, was in dieser westlichen Gesellschaft schief läuft, dass junge Menschen plötzlich alle zivilisatorischen Standards verlieren. Und das hat primär nichts mit Religion zu tun.

Sondern mit Perspektiven?

Ja. Bildung, familiäre Verhältnisse, aber auch Formen der Ghettoisierung. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass ausgerechnet in Frankreich die schlimmsten Attentate stattgefunden haben. Man muss sehen, wie die Strukturen der Städte dort sind und dass diese Banlieues wirklich Ghettos sind.

Die Antwort der CSU ist mehr Überwachung und Polizei.

Die Antwort von Trump ist: Wir müssen die Lehrer bewaffnen, so dass es keine Amokläufer mehr in Schulen gibt. Das ist ungefähr dasselbe, nur im amerikanischen Kontext. Die Amokläufer sind eben keine Islamisten, sondern ganz ›normale‹ Amokläufer. Also unideologisch. Was ist der Unterschied?

Trotzdem müssen wir doch wohl unsere freiheitliche Grundordnung schützen.

Wie gesagt: Was heißt in diesem Fall Freiheit? Ich hatte in der Volksbühne eine Gesprächsreihe und dabei an einem Abend die Videos des Islamischen Staates gezeigt, die zur Rekrutierung westlicher Jugendlicher gedreht wurden. Die hatten rein gar nichts mit dem Islam zu tun. Sie waren wie ein Videospiel aufgebaut: etwa ›World of Warfare‹. Die Botschaft war: Noch besser als ein Videospiel ist es, nach Syrien zu kommen, um dann wirklich bis zur letzten Konsequenz zu spielen. Dabei merkte ich an, dass es eine Gemeinsamkeit von vielen Amokläufern ist, dass sie Abhängige von Ego-Shooter-Spielen waren. Daraufhin musste ich mir natürlich sagen lassen: Ja, ich spiele auch fünf Stunden am Tag solche Spiele und habe noch niemanden umgebracht. Aber das ist auch nicht das Problem. Der Schritt zur Tat wird natürlich nur von einer Minderheit gegangen.

Vielleicht gibt es zwischen den zwei Größen eine Korrelation, aber keine ursächliche Beziehung.

Stellen Sie sich vor, es gäbe ein Videospiel mit dem Titel ›Kindervergewaltigung‹. Das wäre sofort verboten. Niemand würde sagen: Ach, das ist doch nur ein harmloses Spiel. Aber Menschen zu töten wird als normal empfunden, und man behauptet, zwischen Spiel und Verbrechen gebe es höchstens eine Korrelation. Die Frage, die man sich stellen muss: Was führt Menschen dazu, ihre Aggressivität auf diese Weise zu entladen? Und wenn jemand sagt, »Ich mache das fünf Stunden am Tag«, dann hat er vielleicht noch niemanden umgebracht, aber ich finde das trotzdem krank.

Eine Vokabel wie ›krank‹ dämonisiert natürlich sofort.

Krankheit ist kein Tadel. Man muss natürlich über ihre Ursachen sprechen. Aber Freiheit, wie ich sie verstehe, ist eben nicht, die Freiheit, fünf Stunden am Tag einen Ego-Shooter zu spielen. Da sind wir bei Kriterien. Und eines dieser Kriterien ist etwa die seelische Ausgewogenheit. Im Namen der Freiheit kann man eben nicht sagen: Ich darf absolut asozial sein und alles kaputt schlagen, weil es meine Freiheit ist. Natürlich hat man das Problem, dass sobald man darüber spricht, die Antwort kommt: Du willst Videospiele verbieten. Dabei geht es nicht darum, irgendwas zu verbieten. Es geht darum, einen Dialog und eine Reflexion herzustellen, dazu zu ermuntern, über die Ursachen und die Konsequenzen solcher Handlungen nachzudenken.

»Die Normen werden dadurch sichtbar, dass andere sie verletzen.«

Sprechen wir über eine Figur, die seit jeher Normen verletzt: den Künstler. Der Künstler darf Dinge anstellen, für die der Otto Normalverbraucher Ärger kriegt. Er darf ›Heil Hitler‹ rufen, wenn er das in einem künstlerischen Rahmen macht, dann ist das erst einmal durch die Kunstfreiheit gedeckt. Dennoch: Wie frei ist der Künstler tatsächlich?

Ich glaube, die Kunst ist doch zunächst einmal historisch bedingt. Man sieht in der Geschichte der Kunst, wie sie etwa von ihren Förderern abhängig war: von der Kirche, dem Adel, dem Staat oder dem Markt. Da hat sich der Künstler immer in einem sehr engen Rahmen bewegt. Mit der ästhetischen und inhaltlichen Freiheit war es nicht so weit her und das ist es auch heute nicht. Denn erstens ist der Künstler heute wie damals von Geldquellen abhängig. Zweitens ist er auch abhängig von einem bestimmten gesellschaftlichen Klima, von den jeweils herrschenden Normen. Ich glaube, es ist eine Illusion zu denken, dass wir heute frei von Normen leben. Normen gibt es in jeder Gesellschaft. Und man merkt gerade im Moment, dass Kunstfreiheit doch Grenzen hat. So werden etwa bestimmte Dinge gesagt, die einen Skandal auslösen. Die Normen werden dadurch sichtbar, dass andere sie verletzen.

Können Sie das anhand eines Beispiels konkretisieren?

Es gibt viele aktuelle Beispiele. Die Tellkamp-Geschichte ist unter anderem deswegen interessant, weil das, was der Schriftsteller gesagt hat, schon viele andere gesagt haben: Publizisten, Journalisten, Politiker, aber eben keine Künstler. Der Schriftsteller hat besonders in Deutschland einen Auftrag und darf bestimmte Dinge nicht sagen. Man erwartet von ihm, dass er eine erhobene geistige Wahrheit ausspricht, und wenn er sich als besorgter Bürger ausgibt, also eigentlich dasselbe sagt, was viele andere auch, dann kommt es zu einem besonderen Skandal. Das ist auch deshalb interessant, weil er seine Quellen zitiert, Typen, die seit Jahren solche Stupiditäten ausbreiten: Henryk M. Broder zum Beispiel. Aber das wird dann in ihrem Fach akzeptiert, das ist Teil der Meinungsfreiheit. Der Skandal wird erst ausgelöst, wenn ein Künstler das sagt. In diesem Sinne ist die Freiheit des Künstlers sogar geringer als die des Nicht-Künstlers, weil man von ihm erwartet, dass er einen anderen Blick hat. Das ist die eine Sache. Aktuell ist auch die ganze Geschichte mit dem Gomringer-Gedicht an der Schule, an der sich eine merkwürdige Diskussion über Kunstfreiheit, Normen und politische Korrektheit entzündet hat. Die meisten Menschen und Medien äußerten sich gegen die Entfernung des Gedichts. Der einheitliche Tenor war: Was soll das? Ist das Wort ›Bewunderer‹, der Stein des Anstoßes, wirklich sexistisch? Mit solchen Maßstäben müssten ja fast alle Gedichte der Literaturgeschichte zerstört werden. Interessant ist hier, dass das Gedicht trotz alledem entfernt wurde. Das heißt, es gibt Minderheiten, die in der Position sind, ihre Meinung durchzusetzen. Und zwar in diesem Fall gegen die Freiheit.

Ist da die eigene Empfindlichkeit plötzlich der Maßstab? Wer weint, hat immer Recht?

Ja, das ist das Problem. Denn darüber kann man nicht diskutieren. Jede Diskussion wird unmöglich, wenn jemand sagt: Ich bin in meinen Gefühlen verletzt. Dagegen kann man nicht argumentieren. Man kann nicht sagen: Nein, das stimmt nicht. Natürlich kann sich jeder verletzt fühlen. Aber dann gibt es überhaupt keine Kommunikation mehr. Der Vorrang der Empfindlichkeit und des Gefühls führt also zu einer Abwesenheit von Kommunikation, Dialog und rationalen Argumenten.

Man schreibt Voltaire diesen Spruch zu: Du bist anderer Meinung als ich, und ich werde dein Recht dazu bis in den Tod verteidigen. Waren wir mal weiter?

Da sind wir bei der Frage der Norm und der Normativität. Normativität ist ja verpönt, es ist ein Schimpfwort geworden, von Normen zu sprechen. Was einerseits ziemlich heuchlerisch ist, denn was ist normativer als zum Beispiel diese politisch korrekte Genderisierung der Sprache? Verstehen Sie mich nicht falsch: Man kann über die Gründe diskutieren, aber da wird auf jeden Fall eine Norm durchgesetzt. Sie können nicht einerseits sagen: Ich bin gegen Normativität und andererseits neue Normen herstellen. Und das ist das Problem: Seit 20, 30 Jahren oder sogar noch länger ist uns der Universalismus der Aufklärung suspekt geworden. Auch mit guten Argumenten: etwa wegen des eurozentrischen oder männlich zentrierten Blickes, der Herabwürdigung von anderen Kulturen und von Frauen, also der Großteil der Gesellschaft. Deshalb waren die Kritiken an dem abstrakten Universalismus der Aufklärung durchaus gerechtfertigt. Nur sind an der Stelle Partikularismen entstanden, die sich durch eine Abwesenheit von allgemeinen Kriterien auszeichnen. Allgemeine Kriterien sind suspekt geworden. Und wenn Kriterien nicht da sind, was bleibt da außer eben der Empfindung? Ich kann also nicht mehr behaupten, dass deine Aussage falsch ist, weil ich dafür dann Kriterien anwenden müsste. Vielleicht ist für dich persönlich deine Aussage richtig, aber sie hat mich verletzt. Deswegen kann ich das nicht akzeptieren. Anstelle einer rationalen Diskussion, in der man davon ausgeht, dass man vielleicht auch falsch und der andere richtig liegt, tritt im besten Fall ein Ausgleich der Befindlichkeiten, im schlimmsten ein Konkurrenzkrieg. Jeder bleibt in seinem geschützten Raum und in seiner Peergroup und seiner Filterblase. Das führt zu einer Segmentierung der Gesellschaft, und deswegen passt das auch ganz gut zur gegenwärtigen Konstitution der Gesellschaft, in der Gemeinsamkeiten nicht mehr anerkannt oder praktiziert werden.

Man zieht sich in Safe Spaces zurück. Das ist ein bekanntes Phänomen an den Universitäten. Dort hat sich ein eigener Jargon entwickelt. Man spricht etwa von ›Triggern‹ und ›Mikro-Aggressionen‹. Und die sollen natürlich alle vermieden werden. Warum wollen Sie den Studenten ihr Recht auf seelische Unversehrtheit nehmen?

Ich glaube, die Gefahr ist eigentlich eine Verarmung der Erfahrungen. Weil die Erfahrungen, die man im Leben macht, Konfrontationen mit anderen Menschen sind. Und das fehlt, wenn man ständig in seinem geschützten Raum bleibt. Das Problem fängt schon bei den Kindern an. Kinder, die eben im geschützten Raum einer teuren Privatschule aufwachsen und zum Beispiel keine Erfahrung mit Kindern aus anderen sozialen Milieus machen, leben im Grunde in einer Blase, und wenn sie dann entlassen werden, sind sie plötzlich in dieser großen ungeschützten Welt unterwegs und entwickeln infolge dessen Angst. Meiner Meinung nach ist das der Knackpunkt: Schutzräume erzeugen Angst, nämlich sobald man sie eben verlässt.

Also muss ich Widerspruch und Risiken aushalten?

Ja. Diese Null-Risiko-Ideologie ist überall im Alltag zu spüren. Die Idee, dass Risiken komplett eliminiert werden können. Das geht soweit, dass man bereits harmlose Zufälle vermeiden möchte. Und ich glaube, das ist auch eine Folge der technischen Entwicklung. Man kann das an einem einfachen Beispiel festmachen: dem Unterschied zwischen einem Antiquariat, von denen es immer weniger gibt, und einem Online-Antiquariat. In einem Antiquariat hat man ein bisschen gestöbert und ist dann auf ein Buch gestoßen, bei dem man vorher nicht auf den Gedanken gekommen w.re, es zu lesen: Man wusste noch nicht mal, dass es existiert. In einem Online-Antiquariat ist das nicht mehr möglich: Man findet alles, was man sucht, aber nichts darüber hinaus. Es gibt keine Überraschungen mehr und keinen Zufall. Und das Phänomen gibt es heute in vielen Bereichen der Gesellschaft: Ich kann eine Reise komplett durchplanen. Über Facebook kann ich bereits im Vorhinein wissen: Ich werde an dem Abend den Typen treffen, den ich noch nicht kenne, aber wir haben Kontakt, weil wir die und die gemeinsamen Interessen haben, und ich werde von A nach B diese Strecke mit Uber fahren, dann dort dank Couchsurfing übernachten. Und so wird alles praktisch durch die Technik geregelt. Nur wenn irgendwas dazwischenkommt, dann wird die Angst ganz groß. Und ich glaube, sich für Zufälle zu öffnen und das sogar zu kultivieren, ist gesünder.

»Man kann Schutzräume herstellen, aber dadurch werden noch mehr Ängste befördert.«

Und Zufälle schlagen mir im Zweifelsfall auch als Widerspruch oder Widerstand entgegen.

Ja. Und auch als Risiko. Natürlich möchte keiner überfallen werden. Aber es gibt Risiken, die man eingehen sollte. Sonst bleibt man besser zu Hause und geht nicht mehr vor die Tür. Das ist auch technisch machbar, sobald man einen Internetanschluss hat und alles bestellen kann. Und selbst dann ist das Leben nicht frei von bösen Zufällen.

Freiheit und Sicherheit – geht das trotzdem irgendwie zusammen?

Das ist ja ein Thema für alle Politiker: Freiheit ist wichtig, aber Sicherheit noch wichtiger. Und deswegen soll man heute ruhig alle Einschränkungen in Kauf nehmen: mehr Kontrollen, Überwachung des Internets usw. Unsere Freiheiten werden immer mehr beschnitten, weil das angeblich die Sicherheit erhöht. Nur bleibt das noch zu beweisen. Wie ich schon vorhin meinte: Man kann Schutzräume herstellen, aber dadurch werden noch mehr Ängste befördert. Das sieht man schon in ganz alltäglichen Dingen: Das, was man zum Beispiel in der ›MeToo‹-Debatte feststellen kann, ist das Gefühl, dass viele Menschen, in diesem Fall Frauen, sich ihrer Abwehrkräfte beraubt haben. Ich glaube, wenn die Fähigkeit abnimmt, sich zu widersetzen oder ›Nein‹ zu sagen, ist man schnell in der Opferrolle. Und dann bleibt die einzige Möglichkeit, den gesellschaftlichen und medialen Aufschrei mit neuen Gesetzen zu beantworten. Wobei das nur ein Beispiel unter vielen ist. Ich glaube, dass es für sehr lange Zeit ziemlich selbstverständlich für die meisten Menschen war, sich direkt, Auge in Auge, zu widersetzen. Ausgenommen sind natürlich die, die sich aus bestimmten Gründen nicht wehren können, auch moralisch nicht. Ich spreche da also noch nicht einmal von physischer Kraft. Statt der Fähigkeit des Widerstands herrscht plötzlich Angst: Ich habe da vor mir etwas, das außerhalb meiner gewöhnlichen Schutzblase existiert, und da weiß ich nicht, wie ich darauf reagieren kann. Das führt eben zu einer Nachfrage nach mehr Überwachung, mehr technischer Sicherheit und Rechtsnormen an Stellen, an denen es ursprünglich nicht nötig war, weil diese Erfahrung der Konfrontation und des Konflikts vorhanden war.

Bleiben wir kurz bei ›MeToo‹. Das ist doch ein tolles Beispiel dafür, wie sich Freiheit neu aushandelt. Was der Mann vielleicht über Jahrhunderte als seine Freiheit empfunden hat, verletzt die Freiheit der Frau. Hat er nicht gewusst. Jetzt weiß er es.

Ich wage zu bezweifeln, dass der Mann das nicht gewusst hat. Ich glaube, der Mann wusste das sehr genau. Es ist eine interessante Debatte, aber man muss auch andere Faktoren integrieren. Denn natürlich geht es hier auch um eine Machtfrage. Und da ist es ja eine völlig berechtigte und logische Folge des Feminismus zu fragen, warum Frauen eben diese Verquickung von Macht und Sex hinnehmen sollten. Etwa mit dem Chef zu schlafen, um eine bessere Position zu bekommen.

Nehmen wir mal an, wir entwickeln uns zu einer geschlechtergerechteren Gesellschaft: Wir fangen an, überall kleine Gendersternchen in die Texte reinzuschreiben. Wenn sexistische Motive in den Museen entdeckt werden, werden die Rufe aus der Bevölkerung laut, sie abzuhängen. Gedichte mit ›Bewunderern‹ müssen übermalt werden. Das ist doch ein Riesenfortschritt, oder nicht?

Wenn Bilder entfernt werden, wüde ich das nicht als Fortschritt bezeichnen. Es ist auch merkwürdig, wie wir in die puritanische Zeit zurückkehren. Zwar mit anderen Argumenten, aber eigentlich mit demselben Effekt. Und das heißt, dass ursprünglich emanzipatorische Gedanken dazu geführt haben, dass nackte Körper im Bild nicht mehr geduldet werden. Übrigens genauso wie sich der neue Rassismus aus feministischen Argumenten speist: Diese Moslems seien alle Frauenunterdrücker, sowieso seien alle Dritte-Welt-Völker nicht so emanzipiert wie wir, und deswegen gefährdeten sie unsere Welt. An manchen Punkten treffen rechtes Gedankengut und linken feministischen Positionen merkwürdig aufeinander. Das ist ziemlich neu und bedenklich.

Sprechen wir über die Rhetorik, über Gendersternchen und respektvolle Umgangsformen, also über political correctness: Wir sind heutzutage ja alle furchtbar nett zueinander, vermeiden bestimmte Witze und Vokabeln. Ist es nicht sogar möglich, dass man so die realen Machtverhältnisse verdeckt?

Absolut. Also erstmal mache ich das mit den Gendersternchen nicht mit. Und wenn eine Zeitung darauf besteht, dann sollen sie lieber nichts von mir bringen: Diese Sternchen sind unästhetisch und vor allem unlesbar. Wie soll man das laut lesen? Hinter diesen Auswüchsen steckt die komische Vorstellung, dass, wenn ich die Welt verändern will, nur die Sprache verändern muss. Und dann wird alles besser. Im Grunde führt das nur zur Heuchelei: Ein Rassist wird nicht mehr sagen, ich bin ein Rassist, ein Nazi wird nicht mehr sagen, ich bin ein Nazi, und auch ein Chauvinist wird sich einfach nur der offiziell richtigen Sprache bedienen. Da ist nichts freundlicher, sondern Gefühle oder Gedanken werden durch eine Einheitssprache verdeckt, über die dann Konflikte nicht mehr ausgetragen werden. Und Sprache ist eben auch da, um Konflikte zum Ausdruck zu bringen. Man wird die Konflikte nicht los, wenn man nur eine nette, einheitliche, normierte Sprache verwendet. Ich finde das auch sehr bedenklich. Ein anderes Beispiel sind diese Bewegungen gegen den Hass und Gesetze gegen Hate Speech: Als ob der Hass verschwinden würde, wenn nur bestimmte Ausdrücke nicht mehr geduldet würden.

Muss man Freiheit vielleicht auch als Freiheit definieren, Konflikte und Widersprüche zuzulassen?

Ja. Man muss Widersprüche zulassen. Man muss! Ich meine, das ist eben Freiheit. Freiheit verträgt sich nicht gut mit einem allgemeinen Einverständnis, weil es in der Gesellschaft Konflikte gibt. Entscheidend ist die Art und Weise, wie man mit solchen Konflikten und Widersprüchen lebt. Und eben auch mit der kritischen Auseinandersetzung mit diesen, und dabei spielen rationale Argumente eine wichtige Rolle, aber eben nicht auferlegte Normierungen und kleine Sternchen, um Probleme aus der Welt zu schaffen.

Herr Paoli, ich danke Ihnen für das Gespräch.




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