Ein honig­süßer Durch­fall der Sprache: Der end­lose Sommer

Der Superroman | Rezension: Tim Turiak




Der Junge, der vielleicht ein Mädchen ist, es aber noch nicht weiß. – Mit diesem Satz eröffnet der Roman und von da an, beginnt alles zu fließen. ›Der endlose Sommer‹ ist ein honigsüßer Durchfall der Sprache, ein rauschender lyrischer Strom, von dem man sich wie ein Korken emporheben und davon reißen lässt. Die dänische Autorin Madame Nielsen hat ein ungewöhnlich ausdrucksmächtiges Werk geschaffen, das vor allem ein traumwandlerisches Gefühl für Rhythmus und Melodie, aber auch der Hang zu zuchtlos quellenden Sätzen auszeichnet. Und in der Tat, sie könnte uns auf diese Weise die Funktionsweise einer Waschmaschine en dé­tail beschreiben und man würde mit offenem Mund lesen und ihn nur wieder schließen, damit nichts hineinfliegt.

Nun erzählt Madame Nielsen nicht von Waschmaschinen, sondern von einem endlosen Sommer. Und der ereignet sich auf einem Gutshof in Jütland, der unter der Fuchtel eines tyrannischen Vaters zunächst als eine Art Gargamel-Ferienparadies, als ein düsteres, morastiges Loch beschrieben wird, das nach dessen Abreise aber zu einem unwirklich schillernden, ja utopischen Ort erblüht, einem Ort jedenfalls, an dem noch einmal alles möglich scheint. Dabei pflegt der Roman ein übersichtliches Personal: Da ist ein junges Mädchen und ihr Freund, der scheue und zarte Junge, der besagte Stiefvater mit dem Gewehr und dem Misstrauen gegenüber seiner Frau, da sind die beiden jüngeren Brüder und schließlich zwei junge Portugiesen, von denen sich der eine in die Mutter des Mädchens verliebt.

Sie bilden das Kabinett, mit dem Nielsen Begehren und Liebe, Gewalt und Eifersucht, die Zweifel am eigenen Geschlecht, Rebellion, Kunst und soziale Utopie verhandelt. Oft reichen ihr ein paar wenige Seiten, um ganze Lebensläufte entstehen und wieder vergehen, vielversprechende Karrieren anzubahnen und sie wieder versiegen zu lassen – die Autorin erzählt gerne von den Ambitionen, die so sehr den ganz großen Wurf wollen, aber dann irgendwo im Leben versanden, weil man am Ende doch auf die vermeintlich sichere Bank setzt.



Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte laufen in dem Buch wie die Farben in einem Aquarell ineinander. Wenn der Roman überhaupt ein Zentrum hat, dann besteht es womöglich aus der Liebesgeschichte, die sich zwischen der Mutter und dem Portugiesen entspinnt, eine Geschichte, die insofern ein schriftstellerisches Wagnis darstellt, als dass sie noch einmal ein Gefühl vom Format Anna Kareninas heraufbeschwört, in der Gestalt eines großen wahren Märchens, das von Natur aus gegen jede Form von Alltagszynismus gefeit ist. Tatsächlich beschreibt Nielsen die Verbindung zwischen den Liebenden als so gewaltig und schicksalhaft, dass sie wohl nur für göttliche Wesen geschaffen worden sein kann, denn normal-sterbliche Menschen kämen unweigerlich in ihren Zentrifugalkräften um, zumindest wenn sie einen Dauerzustand annehmen würde. Und so muss auch diese Liebe zwangsläufig mit dem endlosen Sommer ablaufen, bloß um im Restleben ihrer Teilnehmer endlos nachzuklingen.

Doch letztendlich ist es gleich, was Madame Nielsen in diesem Buch beschreibt, das Stundenglas steht immer daneben. Im Grunde ist ›Der endlose Sommer‹ ein Requiem, dass der Flüchtigkeit des Glücks in der Rückschau, der Kunst der Erzählung die einzig mögliche Form von Dauer verleiht. Und so schafft es ›Der endlose Sommer‹ über weite Strecken, den Leser in einen Zustand träumerischen seekuhartigen Glücks zu versetzen, in der Wirkung dem Alkohol nicht ganz unähnlich. Es empfiehlt sich deshalb, nicht mehr als vier bis fünf Seiten pro Tag daraus zu lesen.

Empfehlen Sie Ihren Freunden unbedingt diesen Roman. Sie werden Sie beinahe als ›Homme de Lettres‹ verehren. Was französisch ist.













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